Kap 16: Der Landvermesser

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Hätte der alte Landvermesser Wichtel nun nicht ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, sich mit seinen für ÖVU-Verhältnisse fast schon biblischen Alter von 63 Jahren in die wohlverdiente Pension zu verabschieden, hätte Herb K. vielleicht wieder dorthin zurückgeschickt, woher er gekommen war.

So aber brauchte er doch schon kurzfristig einen Mann, der fähig war in die Fußstapfen Wichtels zu treten; Wichtel war nämlich ein äußerst kompetenter und allseits beliebter älterer Herr, der allein auf Grund seines Auftretens viele schwierige Verhandlungen und Grenzstreitigkeiten aller Art souverän zu lösen wußte.

Wichtel war zwar sicher in nächster Zeit nicht zu ersetzen, aber besser als nichts war die Lösung mit K. immer noch – und so viele Bewerber gab es nicht bei der ÖVU, die sich für diese Tätigkeit interessierten.

Eines Tages wurde K. in Wichtels Zimmer gerufen und der alte Herr begann K. von seiner Tätigkeit und seinen Erfahrungen bei der ÖVU zu erzählen: auch er hatte viele Probleme gehabt, er hatte aber diese Arbeit zu lieben gelernt und hatte es doch zumindest bei seinen Kollegen, bei den befreundeten Juristen und Rechtsdienstdamen zu hohen Ansehen gebracht. Er hatte offensichtlich wirklich viel erlebt und konnte unzählige Anekdoten aus seinem Landvermesserleben erzählen.

Immer wieder holte er alte verstaubte Pläne hervor, zeigte sie K. voll Stolz und fügte Erklärungen hinzu. Er wußte über fast alle Anrainer etwas zu berichten und auch über die Amtsleiter der jeweils zuständigen Vermessungsämter.

Wichtel hatte sich nie mehr besonders für EDV interessiert, aber hatte offensichtlich auch so alles fest im Griff. K. begann nun langsam zu ahnen, daß für ihn die Latte als Nachfolger offensichtlich hoch lag, aber er freute sich trotzdem schon auf seine neuen Aufgaben. Endlich hatte sich sein Lebenstraum erfüllt und er sollte erstmals richtig messen dürfen, er sollte ein eigenes Aufgabengebiet haben und er würde immer mit vielen Leuten Kontakt haben.

Wichtel erzählte auch von einer gewissen Frau Doktor, einer Juristin, mit der im besten Einvernehmen stand und mit der er viel zusammenarbeitete: die Landvermesserei und die Juristerei ergänzten sich offensichtlich wunderbar. Auch K. war der Frau Doktor, die ungefähr in seinem Alter zu liegen schien, schon mehrmals flüchtig begegnet, hatte sie immer freundlich gegrüßt, aber noch nie länger mit ihr gesprochen. Irgendwie hatte sie aber immer schon eine gewisse Anziehungskraft auf ihn ausgeübt; und mit dieser netten Dame sollte er nun öfter zusammenarbeiten: der Gedanke gefiel K. durchaus.

Zuletzt äußerte Wichtel noch den Wunsch, daß er noch gerne eine kleine Dienstreise mit K. unternommen hätte zur Einschulung und im Sinne einer reibungslosen Übergabe der noch offenen Arbeiten.

Ein Termin war rasch gefunden und frühmorgens brauste man gemeinsam im alten klapprigen VW-Bus ins Waldviertel wo angeblich noch eine Kleinigkeit offen war. Am Ziel angekommen, deutete Wichtel auf eine Unzahl von unförmigen Steinen. Für K. waren diese Steine eigentlich nichts Ungewöhnliches, denn das Waldviertel ist ja für seinen Steinreichtum bekannt. Bald stellte sich allerdings heraus, daß diese Steine offensichtlich Grenzsteine waren, die Wichtel schon für die Vermarkung der neuen Grenzen vorgesehen hatte.

Abwechselnd deutet Wichtel auf die Steine und dann wieder auf Pläne und Skizzen und redete auf K. unentwegt ein, nur dies und jenes nicht zu vergessen und das eine zu beachten und beim anderen eher vorsichtig sein. K. war fast wie erschlagen und er brauchte zuerst einige Minuten bis er herausfand wo am Plan oben und unten war, und wo in der Natur Norden und Süden war.

Trotz seiner totalen Orientierungslosigkeit wollte er sich natürlich keine Blöße geben und nickte immerzu, was Wichtel nur noch bestärkte mit noch schwereren Geschützen aufzufahren. Es war ein Glanzvorstellung des alten Herrn der bei seiner letzten Dienstreise seinen um 30 Jahre jüngeren Nachfolger ziemlich alt aussehen ließ.

Am Ende packte er sofort wieder alle Unterlagen in seine Tasche, betrachtete zufrieden die mächtigen Steine aus echtem Waldviertler Granit und klopfte K. väterlich auf die Schulter. "Sie werden das schon machen" lachte er und "Sprechen Sie vorher noch vielleicht mit der Gemeinde".

K. schluckte mehrmals kräftig und bestieg dann sehr, sehr nachdenklich den Bus wo Wichtel schon auf ihn wartete. Auch Wichtel war etwas nachdenklich, denn nun wußte er erstmals, daß es vorbei mit der Landvermesserei, mit seinem Beruf den er unendlich geliebt hatte, für den er auf soviel verzichtete hatte bei der ÖVU: in einigen Tagen würde das alles der Vergangenheit angehören.

Der alte Herr schlief dann auf der Rückfahrt bald ein und so gab es auch keine Gelegenheit mehr für Erklärungen oder Rückfragen. Nie hätte es K. gewagt diesen Herrn zu wecken, um noch etwas aus ihm herauszupressen was ihm vielleicht hier oder auch später noch helfen konnte.

K. war nun sehr nachdenklich und zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr sicher, ob er für die Landvermesserei überhaupt geschaffen war – war er vielleicht nicht intelligent genug, hatte er noch zuwenig Erfahrung oder was war es sonst?

Auch wenn er nach diesem Erlebnis etwas verunsichert war, war er aber trotzdem überzeugt, daß dieses verzwickte Problem im tiefsten Waldviertel – Kaltenbach hieß die Gemeinde – zu lösen war.

Er bereitete seine erste Verhandlung für die ÖVU sehr gewissenhaft vor, rechnete unzählige Varianten für einen optimalen Grenzverlauf durch, beriet sich ausführlich mit der Frau Doktor über jedes mögliche und unmögliche Problem, sprach sogar vor der Verhandlung noch persönlich bei der Gemeinde vor und verschickte zuletzt die Einladungen an alle betroffenen Anrainer.

Die Grenzverhandlung fand dann an einem sehr schönen und heißen Spätsommertag statt, der alle Beteiligten noch ziemlich schwitzen ließ, obwohl es um diese Zeit in dieser eher rauhen Gegend schon vorgekommen sein soll, daß eine feine Schneedecke die sanfte Hügellandschaft überzog. K. ließ sich von den eher finsteren Blicken der Waldviertler Gesellen nicht täuschen, denn er wußte von Wichtel und auch aus eigener Erfahrung, daß hinter den manchmal sehr rauhen Schalen, sehr weiche Kerne und sehr liebenswerte Menschen steckten.

K. hatte alle Hände voll zu tun, um die vielen Fragen zu beantworten, versuchte möglichst gut auf die Anwesenden einzugehen, ließ sich noch zusätzlich alte Grenzzeichen zeigen und hörte sich die damit verbundenen Geschichten an: manche dieser Steine waren angeblich schon über 100 Jahre alt und seit Generationen zeigten sie unverändert die Eigentumsverhältnisse zwischen den Bauern an: diese Menschen hatten nie viel außer Grund und Boden und gerade deswegen waren diese Steine anerkannt und heilig.

K. hatte bei der Verhandlung bei Weitem nicht alles im Griff, doch die Frau Doktor half mit ihrem Charme so gut es ging: zeigte K. auch nur eine kleine Schwäche und war er unsicher in der Argumentation, war sie sofort zur Stelle und bügelte das wieder aus, was er kurz vorher verbockt hatte. Sie hatte eine sehr freundliche, angenehme Art, die selbst den harten Waldviertler Granit zum Schmelzen brachte.

Die neuen Grenzen waren nach mehreren Stunden dann aber doch endgültig fixiert und im allgemeinen Tumult bemerkte K. gar nicht wie sehr sich die zwei ÖVU-Bediensteten plagten, die schweren Grenzsteine im harten Granitboden einzugraben. Wahrscheinlich hätten sie manchmal seinen Zuspruch gebraucht oder ein Anerkernnung für diese schwere Arbeit, doch K. nahm sie kaum wahr: zu sehr war er mit seinen Unterlagen, mit den Anrainern und seinen eigenen Unzulänglichkeiten beschäftigt.

So schnell wie sie alle gekommen waren, zogen sie auch wieder von dannen mit ihren Traktoren und Stille kehrte wieder ein im Waldviertel. Zufrieden betrachtete K. sein Werk und begann die neuen Grenzen gleich anschließend zu vermessen. Er würde zwar noch mehrere Tage hier herkommen müssen, aber das Gröbste war nun erledigt.

Bis zuletzt war sich K. nicht ganz sicher ob er auch alles richtig gemacht hatte und ob das alles konform ging zu den einschlägigen Gesetzen und Verordnungen. Nach der Auswertung und Kartierung brachte er sogar einen recht ansehnlichen Vermessungsplan zustande, der dann auch tatsächlich – nach Behebung von wirklich nur kleinen Mängeln – vom Amt bescheinigt wurde.

Auf die Bescheinigung seines ersten Planes war K. dann fast so stolz wie auf sein Diplom und alle mußten dieses Wunderwerk von Teilungsplan unter dem Titel "Wegverlegung Kaltenbach" sehen – egal ob sie wollten oder nicht – und viele erhielten damit wieder die Bestätigung: "Ja – irgendwie war K. doch ein Spinner".